Wildplastic macht aus Müll einen Wertstoff
Plastik ist weltweit ein gigantisches Problem. Über 300 Millionen Tonnen werden jährlich produziert, viel davon wird schnell zu Müll und schädigt die Umwelt zu Lande und zu Wasser. Noch ist aber Plastik in vielen Bereichen auch unverzichtbar und der Abfall ließe sich durch kluges Recycling deutlich reduzieren. Hier setzt das Hamburger Startup Wildplastic an und will bald Kunststoffbeutel aus eingesammelten Müll in den Handel bringen.
Seine ersten Erfahrungen als Startup-Unternehmer sammelte Christian Sigmund bereits während seines Studiums der Medienkommunikation in Köln. Zuerst mit dem Crossroads Boardshop, dann mit Urbanstoke verkaufte er online erfolgreich Skateboards und führte unter anderem die amerikanische Marke Bustin Boards in den europäischen Markt ein. Urbanstoke hatte zeitweilig sogar einen eigenen Laden in Lüneburg.
Wenn Google und YouTube nicht mehr genug Sinn stiften
Kein schlechter Einstieg ins Berufsleben, und nach Beendigung des Studiums wurde es sogar noch prestigeträchtiger. Christian bekam 2013 einen Job bei Google in Dublin und kümmerte sich um die strategische Beratung namhafter Werbekunden. Nach knapp eineinhalb Jahren ging es weiter nach London zu YouTube, wo er den kreativen Nachwuchs der Videoproduzenten unterstützte. Bei YouTube in London zu arbeiten ist für viele sicherlich ein unerfüllbarer Traum. Christian stellte sich allerdings irgendwann die Frage, ob es wirklich das war, was er unbedingt machen wollte.
Ohne festen Plan kündigte zum Frühjahr 2017 und machte sich auf der Suche nach einer Aufgabe, die ihn wirklich erfüllte. Sein Aha-Erlebnis hatte er während einer Sprachreise nach Peru. Bei einer Fahrt auf dem Amazonas sah er, wie die Einheimischen ihren Plastikmüll einfach in den Fluss warfen, und war schockiert. Was könnte man dagegen tun? Aufklärung allein würde nicht reichen, vielfach fehlt es in ärmeren Ländern an einer funktionierenden Abfallentsorgung.
Hinter Wildplastic steht ein starkes Team
Eine konkrete Geschäftsidee hatte Christian damals noch nicht. Zunächst baute er sein unternehmerisches Know-how aus und nahm 2018 am ersten Programm des Company Builders Entrepreneur First in Berlin teil. Nächste Station war dann Hamburg, wo sich die „Plastik-Allianz“ zusammenfand. Zu ihr gehört Christian Schiller, der an der nächsten Runde von Entrepreneur First teilnahm und cirplus, einen Marktplatz für recyceltes Plastik gegründet hat. Ein weiterer Protagonist ist Fridtjof Detzner, der als einer der Gründer von Jimdo zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Hamburger Startup-Szene gehört.
Eine lebensverändernde Erfahrung für Fridtjof war die Produktion einer Fernsehserie für die Deutsche Welle über Entrepreneurship in Asien. Er erlebte dort die oft dramatischen Probleme der Menschen, aber auch kreative und brillante Lösungen. Das inspirierte ihn dazu, selber etwas in dieser Richtung zu tun. Also wurde er einer der Gründer von Wildplastic. Auch wenn Christian Sigmund hauptsächlich das Startup nach außen vertritt, ist es ihm wichtig, den Teamgedanken zu betonen. Deshalb nennen wir hier gern auch die weiteren Gründungsmitglieder: Katrin Oeding, Gründerin der Desgnagentur Studio Oeding; Nadia Boegli, Mitgründerin von tbd*, einer Plattform für nachhaltige Jobs; Holger Ernst, Filmemacher, der zwei Folgen der Serie mit Fridtjof gedreht hat; und Dieter Gottschalk, einer der führenden Plastikexperten.
Erfahrung und Kompetenz sind bei Wildplastic also reichlich vorhanden, aber welche Idee steckt eigentlich dahinter? Der Begriff „wildes Plastik“ bezeichnet den Kunststoffmüll, der weder recycelt noch verbrannt oder anderweitig ordentlich entsorgt wird. Jeder kennt die Bilder von verdreckten Stränden, riesigen Müllteppichen auf dem Meer und verendeten Tieren, in deren Mägen sich erschreckende Mengen an Plastik finden. Das Material kann Jahrhunderte überdauern und richtet selbst zu Mikroplastik zermahlen noch Schäden an.
Wildes Plastik als Rohstoff und Einnahmequelle
Plastik ist aber nicht nur „böse“, sondern ein nützlicher Wertstoff. Plastikprodukte erleichtern den Alltag und noch gibt es zu wenige Alternativen, um sie kurzfristig vollständig ersetzen zu können. Daher ist es absolut sinnvoll, bereits produzierte Kunststoffe wiederzuverwerten. Leider gibt es dafür zu wenige effektive Recyclingsysteme, erst recht nicht in ärmeren Ländern. Zu den ersten, die sowohl das Problem als auch das Potenzial erkannt haben, gehört die 2013 gegründete Plastic Bank aus Kanada. Die gemeinnützige Organisation hat Sammelstellen in Ländern wie Haiti, Indonesien und den Philippinen eingerichtet, wo Einheimische in den Straßen und der Natur eingesammelten Plastikmüll abgeben und damit etwas Geld verdienen können.
Wildplastic bezieht sein Rohmaterial von der Plastic Bank und hat bei der Verarbeitung einige Herausforderungen zu meistern. Grundsätzlich ist es schwierig, sortenreines, nicht kontaminiertes Plastik kontinuierlich und in einer Menge zu beschaffen, um eine marktgerechte Produktion zu ermöglichen. Wildplastic geht dabei besonders ambitioniert vor, denn das Startup hat sich zum Ziel gesetzt, die Plastikart LDPE (Low Density Polyethylene) wiederzuverwerten. Das hatte zuvor noch kein Unternehmen versucht. Wer Neuland betritt, muss mit unvorhersehbarem Komplikationen rechnen, und so dauerte auch bei Wilplastic die Produktentwicklung etwas länger als erhofft.
Inzwischen ist es aber gelungen, eine Folie zu produzieren, die stabil genug ist für reißfeste Müllbeutel. Das ist nämlich der erste Artikel, mit dem Wildplastic in diesem Frühjahr starten will: ein Müllbeutel, der zu 100 Prozent aus Wildplastik besteht. Gespräche mit dem Handel verlaufen vielversprechend, denn die Beutel werden nur unwesentlich teurer sein als bereits erhältliche Produkte. Umso mehr überwiegen die Vorteile, zu denen auch eine hohe Klimaverträglichkeit gehört. So liegt der CO2-Ausstoß bei der Herstellung um bis zu 80 % niedriger als bei der Neuproduktion von Plastik.
Wildplastic ist eine Purpose GmbH
Die LDPE-Folie eignet sich nicht nur für Müllbeutel, sondern beispielsweise auch für Versandverpackungen und ähnliches. Wenn alles klappt wie erhofft, steht Wilplastic also eine äußerst erfreuliche Geschäftsentwicklung bevor. Einen Selbstzweck hat das Startup dabei allerdings nicht: Profit. Deshalb definiert sich Wildplastic als Purpose GmbH. Eine gesetzlich definierte Rechtsform ist das noch nicht, aber eine, die immer mehr Zuspruch erfährt. Die bekanntesten Vorbilder sind das Kondom-Startup Einhorn und die Google-Alternative Ecosia.
Eine Purpose GmbH zeichnet sich vor allem durch zwei Eigenschaften aus. Gewinne werden stets reinvestiert und nicht an irgendwelche Anteilseigner ausgeschüttet. Und, noch wichtiger: Eine Purpose GmbH gehört nur sich selbst und ihren Mitarbeitern und ist damit für externe Investoren uninteressant. Sollten die Gründerinnen und Gründer einmal aussteigen wollen, so verlieren sie ihren Einfluss und können ihre bisherigen Stimmrechte auch nicht zu Geld machen. Wie gesagt, gesetzlich exakt geregelt ist die Unternehmensform nicht, aber mit der Purpose Stiftung gibt es eine Organisation, die engagierte Startups auf ihrem Weg unterstützt. Mit diesem Modell steht Wilplastic nicht nur für eine sauberere Umwelt, sondern auch für sauberere Geschäfte.