So schaffte aiconix die Sanierung
Die Geschichte des KI-Startups aiconix ähnelt einer Achterbahnfahrt. Erfolge und Rückschläge wechselten sich ab, im Laufe der Jahre verschob sich das Geschäftsmodell und zwischenzeitlich drohte sogar die Insolvenz. Die konnte das Team um Gründer Eugen L. Gross zum Glück abwenden und ist jetzt bereit neu durchzustarten.
Im Jahr 2023 gibt es kaum noch ein Tech-Startup, das nicht irgendwo auch mit künstlicher Intelligenz arbeitet – oder das zumindest für sich reklamiert. 2017 war das noch längst nicht so weit verbreitet. In diesem Jahr erhielt das von dem ehemaligen Kameramann und Filmproduzenten und frischgebackenen Medienmanager mit Masterabschluss Eugen L. Gross gegründete Startup aiconix eine EXIST-Förderung und einen Platz im Next Media Accelerator (NMA). Damals bestand die Geschäftsidee noch darin, die Resonanz auf Videos mithilfe von KI auszuwerten, um daraus Schlüsse für die Produktion von beispielsweise Werbespots zu ziehen.
Erfolge, Krisen und ein neues Geschäftsmodell für aiconix
Anfang 2020 war das Startup inklusive Freelancern auf 37 Personen angewachsen. Es hatte erste Kunden akquiriert und stand kurz vor einer Finanzierungsrunde. Dann kam Corona und sorgte für den ersten großen Rückschlag. Aufträge selbst im 100-Euro-Bereich wurden storniert, die Finanzierung kam nicht zustande. aiconix musste sein Team reduzieren und umbauen, konnte sich aber unter anderem durch den Corona Recovery Fonds der IFB Hamburg am Leben halten. 2021 wurde zu einem Jahr der Neuausrichtung, gekennzeichnet durch den Aufbau einer „Composite KI Plattform“. Diese ermöglicht die Kombination von verschiedenen Anwendungen künstlicher Intelligenz in Bezug auf audiovisuelle Inhalte.
Als besonders zukunftsträchtig erwies sich da die Übersetzung von gesprochenen in geschriebenen Text in Echtzeit, auch „Speech to Text“ genannt. Ein Kunde nutzte das Verfahren für die Untertitelung von Reden aus dem Hessischen Landtag in Wiesbaden. aiconix hatte sich bei dieser Technologie eine führende Rolle erarbeitet, weitere Kunden zeigten Interesse, sodass für 2022 Optimismus berechtigt schien. Auch ein Investor stellte eine Finanzierung in Aussicht. Als sich allerdings herausstellte, dass russisches Geld dahintersteckte, stieg Eugen aus dem potenziellen Deal aus. Inzwischen hatte nämlich Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen, der Westen reagierte mit Wirtschaftssanktionen.
Der Weg zum Insolvenzantrag
Dem Krieg hatte aiconix einen spektakulären Auftrag zu verdanken. Der Axel Springer Verlag hatte die Idee, das Live-Programm auf der Webseite und dem YouTube-Kanal von Bild in russischer Sprache zu untertiteln, um der Propaganda des Putin-Regimes etwas entgegenzusetzen.Die Anfrage kam an einem Mittwoch und bereits am folgenden Freitag lief die Untertitelung an. Für das Prestige von aiconix war die Aktion Gold wert, finanziell reichte sie nicht, um das Unternehmen in ruhigere Gewässer zu führen. Das sollte eine Crowdfunding-Kampagne, die mindestens 100.000 Euro, um alle Ziele zu erreichen aber eigentlich 500.000 Euro hätte einbringen müssen. Es wurden dann nur um die 40.000 Euro, die Kampagne war gescheitert.
Im Herbst 2022 dann der nächste Hoffnungsschimmer: Ein Business Angel spielte mit dem Gedanken 500.000 Euro zu investieren. Er erwies sich aber als zu unerfahren und sprang kurzfristig wieder ab. Damit war der Zeitpunkt erreicht, wo Eugen sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft seines Unternehmens machen musste. Er holte sich fachlichen Rat und stellte schließlich den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahren. Das ist immer dann erforderlich, wenn ein Unternehmen den Zahlungsverpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern nicht mehr nachkommen kann. Ein solches Verfahren bedeutet noch nicht das Ende des Geschäftsbetriebs. Auch bei aiconix ging die Arbeit weiter. Zudem war für eine Übergangsfrist von drei Monaten die Zahlung der Gehälter für die Angestellten gewährleistet, Anfang 2023 waren das sieben Personen.
Der Weg zur Sanierung
Drei Monate betrug auch die Frist, um eine tragfähige Lösung für die Zukunft des Startups zu finden. Der Insolvenzverwalter, gestellt von einer erfahrenen Kanzlei, gab zumindest eine positive Fortführungsprognose ab. Zwei Optionen standen zur Auswahl: zum einen der Verkauf des Produkts, also der KI-Plattform. Zum anderem, und das war die bevorzugte Variante, die Übernahme und damit Sanierung des gesamten Unternehmens durch einen neuen Besitzer. Es gab mehrere Angebote, einige davon unverschämt, andere auf jeden Fall eine Überlegung wert. Den Zuschlag bekam schließlich das Softwareunternehmen ThinkOwl, hinter dem wiederum die ITyX Solutions AG steckt, die seit über 25 Jahren am Markt ist und Pionierarbeit in Sachen KI in Deutschland geleistet hat. Da sich die Geschäftsbereiche ergänzen, wird ThinkOwl zugleich zum neuen besten Kunden von aiconix.
Alte Kunden waren dem Startup auch während des Insolvenzverfahrens weitgehend treu geblieben und auch sonst hat Eugen viel Zuspruch erfahren. Das motiviert für die kommenden Monate, denn aiconix ist zwar vorläufig, aber noch nicht endgültig gerettet. Jetzt gilt es, den Kundenstamm auszubauen, um schnellstmöglich den Break-Even-Point zu erreichen. Um das zu ermöglichen, ist eine weitere Neuaufstellung des Teams erforderlich. Bisher hatte Eugen die Herausforderungen unterschätzt, die der Vertrieb mit sich bringt. Er mag ein guter und geschätzter Redner sein, aber das macht ihn noch nicht zu einem erfolgreichen Verkäufer. Das ist eine der Erkenntnisse, die er aus dem Auf und Ab der letzten Jahre gewonnen hat. Es kommt darauf an, die richtigen Leute mit den richtigen Kompetenzen an Bord zu haben, betont der Gründer, der zwar nicht mehr Gesellschafter, aber weiterhin Geschäftsführer von aiconix ist.
Hilfreiche Lektionen und gute Perspektiven für aiconix
Anderen Gründerinnen und Gründern möchte Eugen den Rat mit auf den Weg geben, ein Scheitern zwar nicht einzuplanen, aber zumindest in Gedanken einmal durchzuspielen, um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein und ihn dann vielleicht sogar verhindern zu können. Dazu gehört auch, seinen Businessplan regelmäßig zu hinterfragen. Kommt es dann doch zu ernsten Schwierigkeiten, sollte man diese rechtzeitig und offen gerade gegenüber Geschäftspartnern kommunizieren. Einen weiteren Tipp zur Vermeidung finanzieller Engpässe hat Eugen noch: Geht bei Finanzierungsrunden nicht zu bescheiden vor. Niedrige Beträge sind zwar leichter einzusammeln, sie reichen aber nicht weit, sodass man permanent auf Investorensuche ist.
Dort befindet sich auch aiconix weiterhin, hat allerdings auch einiges zu bieten. So kann das Startup Übersetzungen für fast alle großen Sprachen innerhalb der EU anbieten und arbeitet daran, in Text übertragene gesprochene Worte in eine andere Sprache zu übersetzen und dann über eine synthetische Stimme auszugeben. Das wäre dann eine KI-Version eines Simultandolmetschers. Vorschriften zur barrierefreien Kommunikation, die demnächst in Kraft treten, sollten aiconix zusätzliche Nachfrage verschaffen. Potenzielle Kunden finden sich bei staatlichen Institutionen wie in der Privatwirtschaft, vom Medienunternehmen bis zu Call Centern. Das lässt hoffen, dass die aktuelle Sanierung des Startups erst der Anfang einer Erfolgsgeschichte ist.
Beitragsbild: Morris Mac Matzen