Maison Mitchell – die hohe Kunst der Pâtisserie
In der ABC-Straße werden im Maison Mitchell in aller Öffentlichkeit „Ladies“ verkauft. Aber keine Angst, hier droht kein Sittenskandal, vielmehr erwarten die Besucher Backwaren, die mehr Kunstwerke als schnöde Lebensmittel sind. Wir haben den Gründer, einen Pâtissier aus den USA, getroffen und einige Kostproben verputzt.
Wer das kleine Büro von Gabriel Mitchell betritt, dem fallen in einem Regal ziemlich schnell ein paar Urkunden auf. Eine stammt aus dem Jahr 1986 von der Cornell University im Staat New York und weist Gabriel als Bachelor of Science, Desgign and Environmental Analysis aus. Eine andere hat 2014 die Universität von Boston herausgegeben, für einen Master of Liberal Arts im Bereich Gastronomie. Dazu kommt noch, etwas versteckter, ein Diplom vom International Culinary Center New York in der Kategorie „Classic Pastry“, ausgestellt 2002.
Entweder Rockstar oder Küchenkünstler
Diese Urkunden dokumentieren drei wesentliche Meilensteine in der Karriere und im Leben von Gabriel Mitchell. Nach seinem Studium arbeitete er erfolgreich als Innenarchitekt und Lichtdesigner, bis er zur Jahrtausendwende in eine Lebenskrise geriet. Ihm wurde bewusst, dass es nur zwei Dinge gab, die ihm wirklich etwas bedeuteten: Essen und Musik. Er hatte schon in einem Chor gesungen und spielt insgesamt fünf Instrumente, doch für eine Karriere als Rockstar war es im Alter von 36 Jahren höchstwahrscheinlich zu spät. Also entschied er sich für eine Ausbildung zum Pâtissier.
Schon während des Studiums in New York konnte er für seine Kreationen Preise gewinnen. Die Kunst der Herstellung von Back- und Süßwaren vervollkommnete er dann anschließend in Paris, wo er von den Meistern des Fachs lernte. Danach zog es ihn nach San Francisco und damit in eine Stadt, die von sich behauptet, eine ganz eigene Küche entwickelt zu haben. Gabriel sah das anders und erkannte in der „Bay Area Cuisine“ vor allem französische Einflüsse. Die prägten auch seine kulinarischen Werke, mit denen es ihm einerseits gelang, sich eine treue Fangemeinde zu erarbeiten.
Andererseits machte es ihm seine kompromisslose Art aber schwer, sich dauerhaft in der Gastroszene San Franciscos zu etablieren. Zwischen 2010 und 2012 konnte er seine eigenen Pâtisserie-Erzeugnisse über Pop-up-Stores verkaufen, schon damals unter dem Markennamen Maison Mitchell. Trotzdem stand er kurz davor, vom Küchenpraktiker zum Akademiker mit dem Spezialgebiet Esskulturen zu werden, daher sein Studium in Boston. Als aber sein Lebenspartner, der Hamburger Wurzeln hat, eine Anstellung am UKE bekam, zog Gabriel Ende 2014 ebenfalls in die Hansestadt.
Ein Amerikaner in Hamburg
Sein neuer Plan: Aus Maison Mitchell einen festen Shop zu machen. Bis zum endgültigen Start dauerte es allerdings mehr als zweieinhalb Jahre. Der bürokratische Aufwand und die beschwerliche Suche nach einem geeigneten Laden hinderten ihn daran, sich seinen Traum schneller zu erfüllen. Im Juli 2017 war es dann endlich so weit: In der ABC-Straße, direkt gegenüber Google, öffnete die Hamburger Version von Maison Mitchell ihre Pforten.
Dort warten auf die Kunden kleine kulinarische Kunstwerke, wie es sie so kaum irgendwo ein zweites Mal gibt, schon gar nicht an Alster und Elbe. Gabriel nennt sie liebevoll seine „Ladies“ und gibt ihnen passende Namen. Manche übernimmt er von Frauen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, andere haben ihren Ursprung in der Geschichte oder der Literatur und dem Kino. „Princess Tam-Tam“ etwa ist sowohl der Titel eines Films mit Josephine Baker als auch der Name einer Schololaden-Tarte.
Süße und herzhafte „Ladies“ aus aller Welt
Genau wie Namenspatinnen stammen auch die Zutaten aus aller Welt und allen Kulturen. Einflüsse aus den USA, Europa, Lateinamerika, Asien und dem Orient finden sich in den „Ladies“ wieder. Das Handwerk stammt immer noch aus Frankreich, darauf aufbauend lässt Gabriel seiner Kreativität dann freien Lauf. Längst nicht alle seine Produkte sind Süßspeisen. „B.L.T.“, ausnahmsweise nicht nach einer Frau benannt, ist beispielsweise die Pâtisserie-Variante eines klassischen Sandwiches.
„Wenn du die Regeln kennst, kannst du sie brechen und in deinem Sinn anwenden“, beschreibt Gabriel seine Vorgehensweise. Und: „Wir verkaufen Fantasien und kleine Fluchten aus dem Alltag. Essen ist der neue Luxus.“ Von diesem Konzept hat er sich eigentlich einen „slam dunk“ erhofft, einen „Volltreffer“. Stattdessen muss er harte Überzeugungsarbeit leisten. Viele fremdeln mit den ungewöhnlichen Leckereien, die zudem bei einem Durchschnittspreis von sieben Euro nicht ganz billig sind. 85 Prozent der Käufer sind Frauen, und die beiden Hauptzielgruppen sind junge, neugierige Menschen und Geschäftsleute, die ihren Kunden etwas Besonderes bieten wollen.
Maison Mitchell ist eine Lebensaufgabe
Catering ist deshalb ein wichtiges Standbein für Maison Mitchell, und inzwischen gibt es auch einen Onlineshop mit Keksen, Hundekuchen und Duftkerzen. Die Kerzen werden in Frankreich hergestellt, ansonsten entstehen alle Köstlichkeiten in der ABC-Straße. Dafür steht Gabriel regelmäßig um drei Uhr morgens auf. Ganz allein ist er dabei nicht, zum Team gehören drei weitere Personen, darunter ein Pâtissier in dritter Generation und eine Teilzeitkraft für Vertriebsaufgaben.
Den Laden, der die Anmutung einer Boutique oder eines Juweliergeschäfts hat, soll das Herz von Maison Mitchell bleiben. Weitere kulinarische Lifestyleprodukte sind geplant, weitere Filialen ebenfalls. In seiner momentanen Lieblingsstadt London könnte es bald so weit sein, und auch eine Rückkehr nach San Francisco ist nicht ausgeschlossen. Kein leichter Weg, den der gebürtige New Yorker da vor sich hat. Dabei treibt ihn mehr noch die Liebe zur Kunst als die Liebe zum Backen an. Und Künstler hatten es bekanntlich schon oft schwerer als andere, um am Ende umso glorreicher triumphieren zu können.
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