AU-Schein.de – ein Hamburger Startup als Medienereignis
Selten hat ein Startup innerhalb weniger Wochen ein solch gewaltiges Medienecho hervorgerufen wie AU-Schein.de. Das liegt vor allem an dem ebenso populären wie umstrittenen Thema: Krankschreibung bei Erkältungen über WhatsApp. Wir fassen die bisherige Geschichte des jungen Unternehmens und seiner Rezeption zusammen.
Im Mai 2018 machte eine Meldung die Runde, die weit über Medizinerkreise hinaus für Aufsehen sorgte. Der Deutsche Ärztetag hatte mit großer Mehrheit für die Lockerung des Fernbehandlungsverbots gestimmt. Damit ergaben sich neue Möglichkeiten für die Telemedizin, also die ärztliche Beratung über digitale Medien und ohne Kontakt zum Patienten direkt vor Ort, und somit Chancen für Startups mit passenden Ideen.
Der Gründer beschäftigt sich schon länger mit dem Thema E-Health
Der promovierte Jurist Can Ansay hatte schon vor über fünf Jahren mit dem Aufbau eines Health-Startups begonnen, das sich mit dem Überprüfen von Krankheitssymptomen per App beschäftigt. Ganz aufgegeben hat er das Unternehmen nie. Momentan ist die EBMApp auf Blut im Urin beschränkt, demächst könnte das Angebot aber erheblich erweitert werden. Zwischenzeitlich versuchte sich Can auch an einem Virtual Reality-Projekt, beherzigte aber schließlich die Regel, dass ein Startup spätestens nach drei Jahren Geld einbringen müsse, sonst sei es nicht mehr als ein Hobby.
Die Entscheidung des Ärztetages weckte seinen Unternehmergeist, zusammen mit seinen Mitgründern Andre Lohmann (CTO) und Falko Brinkmann (Projektmanagement) suchte er nach der vielversprechendsten Geschäftsidee. Das Ergebnis ist AU-Schein.de, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per WhatsApp. Innerhalb von drei Monaten haben sie ihr Angebot entwickelt und sind am 21. Dezember damit online gegangen.
Der Service funktioniert so: Wer sich eine Erkältung eingefangen hat und eine Krankschreibung benötigt, beantwortet auf der Webseite von AU-Schein.de ein paar Fragen zu den Symptomen. Wenn diese tatsächlich zur Diagnose „Erkältung“ führen, erhält man eine Bestätigung und den Schein zunächst als Foto und schnellstmöglich auch mit der Post. Die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten erfolgt über WhatsApp. Da die Krankenkassen die Kosten noch nicht übernehmen, zahlen die Nutzer momentan neun Euro, Privatpatienten zusätzlich 16,08 Euro.
Der Medienrummel begann mit einem Artikel in der Mopo
Kurz vor Weihnachten gestartet, blieb das neue Angebot erwartungsgemäß erst einmal unentdeckt. Zwischen den Tagen verschickte Can dann eine Pressemitteilung an rund 180 Empfänger. Den großen Verteiler hatte er noch aus den Zeiten, als er ab 2009 nach dem großen Finanzcrash geschädigte Anleger gegenüber Finanzinstituten vertrat. Vor allem mit Beiträgen über Sammelklagen schaffte er es schon damals in die Presse. 2018 griff zuerst die Hamburger Morgenpost den Start von AU-Schein.de auf. Das war am 29. Dezember. Seither reißt die Berichterstattung bundesweit und auf allen Kanälen nicht ab.
Ein Höhepunkt war ein Bericht in RTL Nachtjournal am 4. Januar 2019, einem Freitag. Am folgenden Montag lagen dann 85 Krankschreibungsanträge bei AU-Schein.de vor. Auf den ersten Blick keine dramatische Zahl, doch für das kaum gestartete Unternehmen schon zu viel. Für ein paar Tage setzte es seinen Service daraufhin aus. Der Grund: Die Kundenangaben wurden da noch per Hand übertragen und an die Partnerärzte verschickt. Das Problem ist inzwischen gelöst, jetzt wird automatisch ein PDF-Dokument generiert. Das trägt auch zur Verbesserung der Datensicherheit bei. Die Patientendaten liegen nun auf einem deutschen Server, nicht mehr bei WhatsApp. Der Messenger dient lediglich als Überträger der End-to-End-verschlüsselten Daten und hat keinerlei Zugriff auf sie.
Fragen bezüglich der Datensicherheit und Gültigkeit der Krankschreibungen
Die Datenschutzfrage ist längst nicht der einzige kritische Punkt bei AU-Schein.de. Bei der enormen Medienresonanz – Can hat inzwischen mit fünf Fernsehteams gesprochen, die Zahl der Artikel über das Startup steigt weiterhin täglich – blieben die kritischen Stimmen natürlich nicht aus. So stellt sich die Frage, ob ein Arbeitgeber eine auf diese Weise zustande gekommene Krankschreibung überhaupt anerkennen muss. Zudem ist die Ausstellung nicht in jedem Bundesland möglich. AU-Schein.de nimmt die Unterzeichnung deshalb in Schleswig-Holstein vor, wo die Regelungen besonders großzügig sind.
Die freie Arztwahl ermöglicht es jedem Patienten, sich seine medizinische Beratung ortsunabhängig zu suchen. So kann ein Münchner ohne weiteres einen Arzt aus Schleswig-Holstein konsultieren. Aber wie glaubhaft ist eine Diagnose, wenn noch nicht einmal ein Gespräch per Telefon oder über eine Webcam stattgefunden hat? Im Ernstfall könnte ein misstrauischer Arbeitgeber den Medizinischen Dienst der Krankenkassen beauftragen, um die Krankschreibung zu überprüfen. Das wird wohl aber eine absolute Ausnahme bleiben. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von AU-Schein gilt höchstens für drei Tage, der Service kann nicht häufiger als zweimal pro Jahr in Anspruch genommen. Das soll chronischen Blaumachern einen Riegel vorschieben.
Vielleicht wird dieses Problem auch überschätzt. In Norwegen können sich Patienten selbst eine Erkältung attestieren und ohne Arztbesuch quasi selber krankschreiben. Die Zahl der Fehltage ist dort sogar rückläufig. Unabhängig davon rieten die Ärztekammern von Hamburg und Schleswig-Holstein in ersten Stellungnahmen von der Nutzung des Dienstes ab. Noch gäbe es zu viele rechtliche Unklarheiten. Gegenwind verspürte AU-Schein.de auch, als zwei Ärztinnen, die die Krankschreibungen ausstellten, nach wenigen Tagen wieder absprangen, weil sie den Medienrummel nicht mitmachen wollten und um ihren Ruf fürchteten.
Die ersten Kinderkrankheiten hat AU-Schein.de schon überstanden
Mittelfristig sieht Can Ansay sein Startup aber auf dem richtigen Weg, rechtlich auf der sicheren Seite sowieso. Mit Kinderkrankheiten musste er rechnen, schließlich ist der Dienst in kürzester Zeit entstanden, einen ausgefeilten Businessplan gibt es bisher auch nicht. Ersatz für die ausgestiegenen Ärztinnen konnte er bereits finden, weitere Gespräche führt er zurzeit. Mittlerweile haben rund 350 Kunden einen Antrag auf Krankschreibung bei AU-Schein.de gestellt.
Das Potenzial ist riesig, über vier Millionen Krankschreibung wegen Erkältungen soll es pro Jahr geben. Darauf will sich AU-Schein.de vorerst konzentrieren. Solche Erkrankungen seien meist harmloser Natur und ließen sich mit der höchsten Trefferquote auch aus der Distanz diagnostizieren, lautet die Begründung. Wenn sich der erste Trubel gelegt und sich das Geschäftsmodell als seriös herausgestellt hat, möchte AU-Schein.de Kooperationen mit Krankenkassen eingehen. Wenn diese den Service anerkennen, wäre er für Nutzer nicht mehr zusätzlich kostenpflichtig.
Bisher ist das Startup komplett eigenfinanziert, bei positiver Entwicklung würde Can aber durchaus Investoren mit ins Boot holen wollen. Auch eine Erweiterung des Teams stünde dann auf der Tagesordnung. Bleibt zu hoffen, dass die bisherigen Kinderkrankheiten tatsächlich nur solche sind und sich nicht als chronische Gebrechen herausstellen.