Die Bubble um das Schulsystem muss platzen
Mit unserem Wettbewerb STARTERiN Hamburg 2021 verschaffen wir zurzeit Startup-Gründerinnen eine Bühne und präsentieren sie als Vorbilder für den Nachwuchs. Noch immer gibt es nämlich zu wenige weibliche Entrepreneure, was auch mit unseren Schulsystem zusammenhängen könnte. Unsere Gastautorin Lisa Steinhauser schildert in diesem Beitrag, was sie durch ihre ersten außerschulischen Erfahrungen über das deutsche Bildungssystem gelernt hat.
Bildung und Schule sind die Grundbausteine des Fortschritts. Um aktuelle Herausforderungen, wie vom Job frustrierte Erwachsene oder zu wenig Frauen in technischen Berufen zu bewältigen, müssen wir genau dort ansetzen und das Problem bei der Wurzel packen. Ich habe im Jahr 2020 mein Abitur gemacht und nehme nun an dem Qualifizierungsjahr für junge, an Technik interessierte Frauen ,“proTechnicale”, teil, in dessen Rahmen ich meine ersten Berufserfahrungen in dem HR-Tech-Startup matched.io sammle. Durch meine aktuellen Erfahrungen haben sich für mich gewisse Erkenntnisse abgeleitet. Gegebenheiten, die heute in der Schule verändert werden müssen, damit es morgen glückliche Erwachsene und mehr weibliche Arbeitskräfte im MINT-Bereich gibt.
Was soll ich nach der Schule machen?
Spätestens in der zehnten Klasse war ich vom Schulsystem frustriert. Gelangweilte Schüler:innen, kaum Wahlmöglichkeiten, um eigene Interessen zu vertiefen und ein Benotungssystem, das nur Druck ausübt, statt zu motivieren. Die ersten beiden Punkte haben sich nach meinem Schulwechsel auf das Landesgymnasium für Hochbegabte erheblich verbessert. Durch eine individuelle Förderung mit dem Ziel des Ausbaus der Stärken des Einzelnen hatten die Schüler:innen mehr Spaß an Schule und waren dadurch deutlich motivierter.
Ich habe schon früh angefangen, mir Gedanken über meinen Weg nach der Schule zu machen. Ich wollte studieren. Aber was? Ich schwankte viel hin und her. Mal war es Psychologie, dann wieder Wirtschaftsingenieurwesen oder Physik. Da ich mich schon immer sehr für Technik interessierte und Spaß an Mathematik und Physik hatte, war ich mir irgendwann sicher, in die technische Richtung gehen zu wollen. Obwohl ich mir meinen Stärken und Interessen bewusst war, existierten dennoch Zweifel, die mich davon abhielten, sofort ein Studium in diesem Bereich anzutreten. Das technische Studienorientierungs- und Vorbereitungsjahr “proTechnicale” half mir besser als gedacht, jene Barriere zu überwinden.
Vorbilder, Projekte und Praktika haben mir geholfen, meinen Weg zu finden
Neben den technischen Inhalten und Persönlichkeitscoachings ist ein Bestandteil des Programms, Vorbilder kennenzulernen. Sie helfen, steife Vorurteile umzuprogrammieren und ein realistisches Bild eines Berufes widerzuspiegeln. Nur so kann bei Mädchen und jungen Frauen unterbewusst eine Identifikation mit dem jeweiligen Beruf stattfinden. Bei proTechnicale gibt es aus diesem Grund sogenannte Kaminabende. Dabei werden vor allem Frauen aus Führungspositionen und technischen Berufen eingeladen, stellen sich und ihren Werdegang vor und beantworten anschließend noch einige unserer Fragen.
Auch das soziale Projekt ist Teil von proTechnicale. Wir haben zusammen ein Kinderbuch, namens “Sophia greift nach den Sternen” geschrieben und illustriert, dessen gesamter Erlös gespendet wird. Darin geht es um das kleine Mädchen Sophia, dessen größter Traum es ist, Astronautin zu werden. Wir haben uns in Teams aufgeteilt und so die groben Aufgabenbereiche “Marketing”, “Produktentwicklung”, “Organisation” und “Finanzen” abgedeckt. Durch dieses Projekt habe ich mehr für mein späteres Praktikum bei matched.io gelernt, als im größten Teil meiner Schulzeit.
In den agilen Arbeitsweisen des Startups bin ich aufgegangen
Vorher konnte ich mir nicht vorstellen, wie es ist, zu arbeiten.
Mein Praktikumsunternehmen matched.io hilft Entwickler:innen, einen Job und Arbeitgeber zu finden, der sie glücklich macht. Als Strategie, um das zu erreichen wird auf “Mindset-matching” gesetzt, bei dem die individuelle Einstellung, sowie Werte und Ziele oberste Priorität haben. Die Zufriedenheit durch Spaß bei der Arbeit und das Verfolgen persönlicher Ziele und Leidenschaften steht auch innerhalb des Unternehmens im Mittelpunkt. So hat nicht jeder, wie in den meisten Konzernen, einen stark eingegrenzten Arbeitsbereich, in dem sich jegliche Tätigkeiten abspielen. Es ist vielmehr so, dass die Strukturen dynamisch sind und die Person beispielsweise eine Kooperation oder Kampagne übernimmt, die sie “fühlt”. Das heißt, dass wenn ich besonders für das Thema “Frauen in technischen Berufen” brenne, federführend für eine Kampagne in diesem Bereich verantwortlich bin, auch wenn ich mich sonst hauptsächlich mit Produktentwicklung beschäftige.
Außerdem gibt es hier einen sehr angenehmen Umgang mit “Fehlern”. Statt diese zu verurteilen, gibt man einander konstruktives Feedback. So kann man bestmöglich daraus lernen und wachsen, ohne frustriert zu sein.
Schulen können sich noch etwas bei proTechnicale und matched.io abschauen
Auch in der Schule würden sich zur Berufs- und Studienorientierung Veranstaltungen anbieten, die den proTechnicale-Kaminabenden ähneln.
Natürlich muss dies in der Schule nicht auf eine konkrete berufliche Richtung oder ein Geschlecht beschränkt sein. Denn diese Art der Orientierung würde allen Schüler:innen helfen, sich mehr zuzutrauen und leichter persönliche Ziele definieren zu können.
Um Lernenden agile Arbeitsweisen nahezubringen, braucht es mehr fächerübergreifende Projekte in der Schule. Im technischen Bereich führt das beispielsweise dazu, dass rein naturwissenschaftliche Fächer, wie Physik, kontextualisiert werden. So versteht man den Nutzen und kann mögliche Prozesse und Methoden in diesen Bereichen nachvollziehen.
Außerdem sollte das Notensystem überdacht werden. Ist es wirklich das Ziel, Schüler:innen durch Druck und Frustration zum Lernen zu bringen? Ganz sicher nicht. Genau das führt zu jungen Menschen, die nicht wissen, wo sie in ihrem Leben hinwollen und was sie wirklich erfüllt. Die Motivation sollte von innen kommen. Das Lernen aus Fehlern muss belohnt werden, statt die Fehler an sich zu bestrafen.
Wir müssen heute anfangen, die Kluft zu schließen!
Sicher reichen diese Maßnahmen nicht aus, um die zu Beginn genannten Herausforderungen zu bewältigen. Dazu ist die Kluft zwischen dem aktuellen Stand zu einer Arbeitswelt mit ausschließlich erfüllten Berufstätigen und einem Gleichgewicht von Frauen und Männern in MINT-Berufen noch zu groß. Dennoch ist es ein Anfang, der Neues in Gang setzen kann. Das Schulsystem und deren Verantwortliche scheinen in einer “Bubble” zu leben. Etwas frischer Wind und Inspiration von außen würde helfen, die verkrusteten und veralteten Strukturen endlich aufzulockern. Jetzt ist die Zeit zu handeln. Die Veränderungen, die wir heute in dem Fundament, der Bildung, vornehmen, werden in spätestens zehn bis zwanzig Jahren in der Arbeitswelt spürbar sein.
Lisa Steinhauser ist Teilnehmerin des technischen Studienorientierungs- und vorbereitungsjahres “proTechnicale”. In diesem Rahmen macht sie ein Praktikum beim HR Tech-Startup “matched.io”, wobei sie ihre ersten Berufserfahrungen sammelt.
Lisas Ziel ist es, später einmal selbst ein Tech-Startup zu gründen, mit dem sie gesellschaftliche oder Umweltprobleme lösen kann. Für ihr Engagement und Interesse wurde sie im Jahr 2019 mit dem “Top Talents under 25”-Award ausgezeichnet.