Patchie hilft kranken Kindern bei der Therapie
Mukoviszidose ist eine seltene Erbkrankheit, die nur den wenigsten ein Begriff sein dürfte. Sie ist nicht heilbar, aber die richtige Behandlung kann die Lebensqualität deutlich verbessern. Besonders Kindern fällt die Therapie schwer. Da kann ein virtueller Freund eine große Hilfe sein, ein Freund wie Patchie.
Eigentlich ist Patchie ein ganz normaler Außerirdischer mit drei Augen, Hörnern und blauer Haut. Wie viele seiner Artgenossen reist er gerne durchs Weltall und erlebt dort spannende Abenteuer. Eines ist allerdings anders bei ihm: Regelmäßig muss er spezielle Übungen durchführen, um mit seiner Krankheit fertigzuwerden. Patchie hat nämlich Mukoviszidose.
Mukoviszidose ist eine seltene Stoffwechselerkrankung
Dieses Schicksal teilt er mit etwa 8.000 Menschen in Deutschland. Vereinfacht ausgedrückt bewirkt Mukoviszidose eine übermäßige Verschleimung der Lunge und anderer lebenswichtiger Organe. Die vererbbare Stoffwechselerkrankung ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht heilbar, und ihre Behandlung ist mit einem permanenten, zeitintensiven Therapieaufwand verbunden. Dazu gehören Inhalationen, Physiotherapie und die Einnahme von Medikamenten.
Von alldem hatte Marc Kamps noch nichts gehört, als 2013 sein Sohn Nalu geboren wurde. Die Geburt war nicht ohne Komplikationen verlaufen. Eine Darmverschlingung hatte einem um zwei Monate vorgezogenen Kaiserschnitt nötig gemacht. Nach acht Wochen kam dann die Diagnose: Mukoviszidose. Marc googlelte die seltene Krankheit und war entsetzt, als er über eine Lebenserwartung von fünf Jahren las.
Nicht heilbar, aber die Lebenswerwartung ist gestiegen
Zum Glück entspricht diese Zahl nicht mehr der Realität, bei der richtigen Therapie ist ein Alter von 40 Jahren erreichbar, in manchen Fällen auch ein deutlich höheres. Eines ist aber unvermeidbar: Die Betroffenen müssen ihr ganzes Leben nach der Krankheit ausrichten. Und in vieler Hinsicht gilt das auch für ihre Familien.
Eine entscheidende Änderung gab es 2014 für Marc auch beruflich. Jahrelang hatte er bei Innogames gearbeitet, unter anderem an der Entwicklung des Spiels Tribal Wars 2. Dann entschloss er sich, seine eigenen Projekte voranzutreiben, und gründete Birds and Trees. 12 Ideen standen zwischenzeitlich zur Diskussion, am Ende konzentrierte er sich ganz auf eine 13., eine App für Eltern mit Kindern, die an Mukoviszidose erkrankt sind.
Patchie ist ein digitaler Freund wie einst Tamagotchi
Für eine solche App gäbe es keinen Bedarf, lautete die Reaktion aus Ärztekreisen, aber Kindern könne auf diese Weise geholfen werden. Ein digitaler Begleiter würde ihnen die aufwändigen und lästigen Behandlungsmaßnahmen spielerisch näher bringen und erleichtern. Vorbild ist das Tamagotchi, ein in den 1990er Jahren enorm populäres Elektronikspielzeug, das wie ein echtes Haustier gehegt und gepflegt werden musste, um sich entwickeln zu können.
Ähnlich verhält es sich mit Patchie, der seinen Namen übrigens von dem englischen Wort für „Pflaster“ ableitet. Sein jetziges Aussehen ist das Ergebnis von Tests mit Schulklassen und spricht daher Kinder ganz allgemein an. Schließlich soll das Spielen mit ihm in erster Linie Spaß machen, nur dass in seinen Alltag beiläufig auch Therapiemaßnahmen zur Behandlung von Mukoviszidose einfließen, die sich die kleinen Patienten zum Vorbild nehmen können. Dabei ist die Spielzeit auf 20 Minuten pro Tag beschränkt.
Die Entwicklung der App kostet selbstverständlich eine Menge Geld, zumal inzwischen ein elfköpfiges Team an der Entwicklung arbeitet und sich Birds and Trees ausschließlich auf dieses Projekt konzentriert. Es gibt eine Reihe von Unterstützern, unter anderem ein Unternehmen aus der Pharmabranche, und eine Crowdfunding-Kampagne war 2015 auch erfolgreich verlaufen. Mehr als 75.000 Euro kamen dabei in die Kasse.
Es fehlt noch an finanzieller Unterstützung, auch von der Stadt Hamburg
Das alles aber reicht noch lange nicht, um Patchie finanziell auf sichere Beine zu stellen. Insgesamt ist bereits Arbeitsleistung im Wert von 1,2 Millionen Euro in die App eingeflossen, in Programmierung, Forschung und Entwicklung der Story. An der hat ein Kinderbuchautor mitgewirkt. Im Zentrum der Geschichte steht neben Patchie der Roboter Carl, der so ziemlich alles weiß und immer wieder wertvolle Tipps gibt.
Bei der Finanzierung kann Carl allerdings auch nicht helfen. Da wünscht sich Marc mehr Unterstützung von der Stadt Hamburg, die Patchie durchaus als Vorzeigeprojekt versteht. Geld gibt es zurzeit trotzdem nicht, sei es, weil die App nicht innovativ genug sei oder schon zu weit entwickelt. Eine Rolle mag auch die Konkurrenz zwischen Hamburg und Berlin spielen. In der Bundeshauptstadt läuft nämlich gerade eine Machbarkeitsstudie mit der renommierten Charité.
Die wird sicherlich wertvolle Erkenntnisse liefern, doch die Kooperation mit Berlin stößt bei bestimmten Stellen in der Hansestadt nicht gerade auf Begeisterung. Ungeachtet dessen soll im 3. Quartal eine klinische Studie folgen. Inzwischen sind bei der App auch wieder die Eltern mit einbezogen, die mitverfolgen können, wie ihre Kinder das Spiel und die Umsetzung in Therapiemaßnahmen annehmen. Auch Ärzte werden auf diese Weise über den täglichen Behandlungsverlauf informiert.
Kinder mit Mukoviszidose haben auch einen ganz normalen Alltag
Ab Oktober will Marc mit einer Fotoausstellung über den Alltag von jungen Mukoviszidose-Patienten informieren. Der besteht längst nicht nur aus anstrengenden Übungen, sondern auch aus Spiel und Spaß wie bei allen anderen Kindern. Auf den Bildern wird auch Nalus Schwester Kiana zu sehen sein (beide Namen stammen aus dem Hawaiianischen). Geschwister der Erkrankten leiden oft darunter, vermeintlich nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Liebe zu kommen. Deshalb ist es wichtig, sie ebenfalls spielerisch mit den Besonderheiten des Lebens mit Mukoviszidose vertraut zu machen.
In der Regel wird Unternehmern positiv angerechnet, wenn sie sich mit einem Problem auseinandersetzen, das sie auch persönlich beschäftigt. Bei Marc ist das zweifellos der Fall, doch wird ihm das zuweilen negativ ausgelegt; er sei befangen und nicht in erster Linie am Geschäftserfolg interessiert. Tatsächlich lässt sich mit einer App nur zur Behandlung von Mukoviszidose nicht genug Geld verdienen. Zu wenige sind betroffen.
Asthma-App soll den kommerziellen Durchbruch bringen
Bei Asthma sieht das ganz anders aus. Sie gehört zu den weltweit häufigsten Krankheiten. Bis zu zehn Prozent der Kinder in Deutschland sind betroffen und müssen entsprechende Behandlungsschritte durchführen. Auch da könnte ein Patchie als ständiger Begleiter zur Seite stehen. Wenn dann noch die Krankenkassen mitmachen, ergibt sich hier tatsächlich ein skalierbares Geschäftsmodell, das auch für Risikokapitalgeber interessant sein könnte. Zu gönnen wäre das Marc und seinem Team auf jeden Fall, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als anderen Startups.
Fotos (außer Teamfoto): Marc Kamps; Grafiken: Birds and Trees
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